Katastrophaler Lebendtiertransport: Tausende Rinder vor der Türkei gestrandet

Fehlende Dokumente verhindern Entladung des Schiffes

Das Viehtransportschiff „Spiridon II“ im Hafen von Bandırma
(Türkei) am 9. November 2025.

Ein Viehtransportschiff mit knapp 2.900 Rindern aus Uruguay liegt seit Wochen vor der türkischen Küste fest und darf nicht entladen werden. Grund dafür sind Probleme bei den Transportpapieren: Den türkischen Behörden zufolge fehlten bei Hunderten Tieren die vorgeschriebenen Identifizierungsnachweise (etwa Ohrmarken bzw. Chips), und die Angaben
stimmten teilweise nicht mit den zuvor eingereichten Listen überein. Konkret soll für 469 Rinder keine gültige Dokumentation vorgelegen haben, weshalb die türkischen Beamten die Entladung der gesamten Ladung verweigerten — obwohl für schätzungsweise 2.400 Tiere alle Papiere in Ordnung waren[1].

Das Schiff „Spiridon II“, ein über 50 Jahre alter umgebauter Frachter unter togoischer Flagge, hatte am 20. September in Montevideo (Uruguay) abgelegt und erreichte am 22. Oktober die Gewässer vor Bandırma in der Türkei[2]. Seitdem kreuzt es vor der Küste, da die Tiere nicht an Land gebracht werden dürfen. Erst nachdem der Fall internationale Aufmerksamkeit erregte, durfte das Schiff kurz im Hafen andocken, um Futter und Einstreu zu laden[3][4].

Eine endgültige Lösung gab es jedoch zunächst nicht: Die Türkei blieb dabei, die Rinder nicht einreisen zu lassen. Der Besitzer des Schiffes versuchte zwischenzeitlich offenbar, einen Ausweichhafen oder einen Käufer in einem Drittland (etwa der Ukraine) zu finden. Da sich kein Aufnahmeland fand, wurde schließlich entschieden, den Transporter mit den Rindern an Bord zurück nach Uruguay zu schicken — eine weitere drei- bis vierwöchige Seereise, die die Strapazen der Tiere noch verlängert[5][6].

Tierleid an Bord: verendete Rinder und verschwundene Kälber

Auf dem Oberdeck des Schiffes lagern Heuballen und weiße Säcke, indenen sich vermutlich Kadaver verstorbener Rinder befinden (Foto vomNovember 2025).

Tierschutzorganisationen schlagen Alarm, denn die Zustände an Bord des Schiffes sind katastrophal. Von den rund 2.900 Rindern (überwiegend trächtige Färsen) sind mindestens 48 Tiere bereits verendet — diese Zahl wurde vor über einer Woche genannt und dürfte mittlerweile weiter gestiegen sein. Unklar ist, was mit den Kadavern geschieht; Beobachtungen legen nahe, dass tote Tiere in Säcken auf dem Oberdeck gelagert wurden[7]. Anwohner an der Küste hatten sich bereits über verwesungsbedingten Gestank und Insekten beklagt, sodass die Behörden dem Schiff zeitweise anordneten, weiter draußen vor Anker zu gehen. Die noch lebenden Rinder befinden sich mittlerweile seit fast zwei Monaten auf engstem Raum an Bord. Laut Augenzeugen standen viele Tiere in ihrem eigenen Kot; überhitzte, ammoniakgeschwängerte Luft und mangelhafte Belüftung erschweren das Atmen[8][9].

Aufgrund von Futter- und Wassermangel sind die Rinder erschöpft, dehydriert und geschwächt. Tierschützer berichten zudem, dass während der Odyssee rund 140 Kälber geboren wurden — viele Kühe waren tragend — doch etwa 90 der neugeborenen Kälber sind verschwunden und wurden nie lebend gesehen. Experten erklären, dass Neugeborene auf solchen Transporten kaum Überlebenschancen haben: Inmitten der dicht gedrängten Muttertiere werden Kälber leicht niedergetrampelt oder gehen im Stall verloren[10][11].

Angesichts dieser Lage sprechen Tierschutzorganisationen von einem Notfall in Sachen Tierwohl und Biosicherheit[12]. Sie fordern ein sofortiges Eingreifen der Behörden, um die leidenden
Tiere wenigstens notzubringen und medizinisch zu versorgen[13][14]. Obwohl es sich in diesem Fall nicht um EU-Tiere handelt, hat die deutsche Animal Welfare Foundation (AWF) sogar die EU-Kommission um diplomatische Hilfe gebeten, damit zumindest die eindeutig identifizierten Rinder von Bord geholt werden können[15]. Jede Entlastung — selbst wenn zunächst nur ein Teil der Tiere an Land dürfte — würde Überbelegung und Ressourcenknappheit an Bord etwas lindern[16][17].

Die AWF-Projektleiterin Dr. Maria Boada Saña warnt: Nach der langen Überfahrt seien die Tiere bereits extrem geschwächt, und „jede weitere Verzögerung bedeutet massives Leiden“[18]. Sollte die Rückkehr nach Uruguay tatsächlich erfolgen, würde dies die Gesamttransportdauer auf 87 Tage erhöhen[19][5] — mit ungewissem Ausgang, wie viele Rinder diese Tortur überhaupt
überleben.

Wiederkehrende Tragödien bei Lebendtiertransporten

Der aktuelle Fall ist kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine Serie erschütternder Vorfälle mit Tiertransporten über See. Bereits Anfang 2021 sorgte ein ähnliches Drama für Schlagzeilen: Zwei Tiertransportschiffe, die Spanien im Dezember 2020 mit insgesamt ca. 2.600 Jungrindern verlassen hatten, konnten wegen eines Verdachts auf Blauzungenkrankheit monatelang keinen Hafen finden. Mehrere Zielländer im Nahen Osten verweigerten damals aus seuchenpräventiven Gründen die Einfuhr der Tiere. Die Rinder mussten fast drei Monate auf See ausharren — auf engstem Raum und unter grauenvollen Bedingungen — bevor die völlig entkräfteten Tiere schließlich nach Spanien zurückbeordert und dort aus Tierschutz- und Gesundheitsgründen umgehend getötet wurden[27]. Ein weiterer Vorfall ereignete sich im Jahr 2022: Ausgerechnet die Spiridon II — das jetzt vor der Türkei festsitzende Schiff — hatte einen Maschinenausfall vor der Küste Spaniens. Damals befanden sich über 7.900 Tiere an Bord (etwa 7.600 Schafe und 300 Kälber); der havarierte Transporter musste nach Griechenland geschleppt und die Tiere dort auf ein anderes Schiff umgeladen werden. Solche Ereignisse verdeutlichen das enorme Risiko und Leid, dem transportierte Nutztiere auf wochenlangen Seereisen ausgesetzt sind, wenn unvorhergesehene Probleme auftreten — seien es technische Pannen, Krankheitsverdachtsfälle oder bürokratische Hürden. In allen Fällen sind die Tiere die Leidtragenden, die ohne Ausweg in einer schwimmenden Falle gefangen sind.

Tierschutzorganisationen kritisieren seit langem, dass solche Lebendtiertransporte über weite Distanzen nicht zeitgemäß und unnötig grausam seien[20]. Versuche, zumindest die Bedingungen zu verbessern, laufen schleppend: In der EU wird schon seit Jahren über schärfere Regeln debattiert. So sollte die Transportdauer vom Hof bis zum Schlachthof eigentlich auf
maximal 9 Stunden begrenzt und für mehr Platz sowie nächtliche Fahrten an heißen Tagen gesorgt werden. Doch bis heute konnte keine Einigung erzielt werden, und Tiertransporte über Straße und See gehen nahezu unvermindert weiter. Während Tierschützer ein vollständiges Verbot von qualvollen Langstreckentransporten fordern, betonen Vertreter der Landwirtschaft und des Handels die ökonomischen und versorgungsrelevanten Gründe, warum lebende Tiere in bestimmte Regionen exportiert werden. Der vorliegende Fall offenbart indes auf tragische
Weise beide Seiten des Dilemmas: Einerseits die erheblichen Tierschutzprobleme, andererseits die Abhängigkeit mancher Länder von diesen Lieferungen.

Warum Lebendtiertransporte (dennoch) als notwendig gelten

Angesichts der schockierenden Bilder stellt sich die Frage, warum Tiere überhaupt lebend über Kontinente verschifft werden. Warum wird nicht einfach Fleisch vor Ort produziert oder gekühlt geliefert? Die Realität ist komplex — in vielen Fällen gelten Lebendtiertransporte als unverzichtbar, weil Alternative Versorgungslösungen fehlen. Einige der wichtigsten Gründe:

  • Mangelnde Kühl- und Infrastruktur: In vielen Empfängerländern — oft Entwicklungsländer in Afrika oder Asien — fehlt es an einer flächendeckenden Kühlkette. Es mangelt an geeigneten Schlachthäusern und Kühlräumen, sodass Fleisch dort kaum längerfristig gelagert oder über weite Strecken transportiert werden kann. Ohne Kühlung würde frisches Fleisch in tropischen Klimazonen (oft Temperaturen von über 30 °C) schnell verderben. Um Nahrungsmittelverluste zu vermeiden, greifen viele Gemeinden auf traditionelle Methoden wie Pökeln, Trocknen oder direktes Schlachten am Verbrauchsort zurück. Diese Methoden gewährleisten jedoch nicht dieselbe hygienische und nahrhafte Qualität wie eine gekühlte Lieferkette.

  • Keine Kühlgeräte in ländlichen Gebieten: Gerade in ländlichen Regionen vieler armer Länder fehlt es an Elektrizität und Haushaltsgeräten wie Kühlschränken. In Subsahara-Afrika besitzen z. B. nur etwa 4 % der ländlichen Haushalte einen Kühlschrank[21] — Millionen Menschen leben ohne zuverlässige Stromversorgung. Ähnlich sieht es in Teilen Süd- und Südostasiens aus. Für diese Bevölkerung ist es nahezu unmöglich, gekühltes Fleisch lange aufzubewahren. Stattdessen werden Tiere lebend verkauft und transportiert, oft bis ins abgelegenste Dorf, wo sie erst kurz vor dem Verzehr geschlachtet werden. Dadurch erspart man sich die Notwendigkeit einer lückenlosen Kühlung — das Fleisch ist beim Verzehr „frisch“, weil das Tier bis zuletzt am Leben war.

  • Heißes Klima und sofortiger Verzehr: In Regionen mit ganzjährig warmem Klima (oft 25–40 °C) ist es üblich, Fleisch sofort nach der Schlachtung zuzubereiten oder zu konsumieren. Da viele Familien keinen Kühlschrank haben, kaufen sie bevorzugt „warmes“ (frisch geschlachtetes) Fleisch auf lokalen Märkten. Dieses wird meist noch am selben Tag verarbeitet. Gefrorenes oder lang gekühltes Fleisch gilt dort teils als minderwertig oder unsicher, da die Kühlkette vor Ort nicht garantiert werden kann. Lebendtiertransporte ermöglichen es,
    dass auch entlegene Gemeinden regelmäßig zu frischem Fleisch kommen, ohne dass teure Kühltransportlogistik aufgebaut werden muss. Aus westlicher Sicht wird dieser Umstand oft unterschätzt — doch für die Versorgungssicherheit vieler Regionen ist er ausschlaggebend.

  • Religiöse und kulturelle Gründe: In vorwiegend muslimischen Ländern kommt hinzu, dass Verbraucher häufig Wert darauf legen, dass die Tiere gemäß ihren religiösen Vorschriften geschlachtet werden. Oftmals möchten Gemeinden oder Familien insbesondere zu religiösen Feiertagen (wie etwa Opferfest/Eid al-Adha) das Tier selbst bzw. lokal schlachten. Lebende Rinder, Schafe oder Ziegen werden auf Märkten gehandelt und nach Bedarf vor Ort geschächtet, um Halal-Frischfleisch zu erhalten. Diese Praxis hat kulturelle Bedeutung und schafft Vertrauen in die Fleischqualität. Zwar sind mittlerweile in vielen exportierenden Ländern (z. B. Australien) die Schlachthöfe Halal-zertifiziert und könnten entsprechend produzieren. Dennoch besteht in Teilen der Kundschaft eine Präferenz für lebende Tiere, um die Schlachtung traditionell und selbstbestimmt durchzuführen.

  • Markt und Wirtschaftlichkeit: Der Handel mit lebenden Tieren hat sich in gewissen Ländern etabliert, weil er bislang als ökonomisch sinnvoll galt. Importländer mit gut ausgebauter Kühlkette nehmen zwar auch gefrorenes Fleisch ab, kaufen aber dennoch zusätzlich große Mengen an Lebendtieren — ein Hinweis darauf, dass hier andere Faktoren eine Rolle spielen. Beispielsweise sichern Lebendtier-Importe Arbeitsplätze in lokalen Schlachthöfen und Märkten des Ziellandes und ermöglichen eine bedarfsgerechte Verteilung bis in ländliche Gebiete, was mit tiefgekühlter Ware logistisch komplizierter wäre. Kritiker halten allerdings entgegen, dass diese Rechnung zunehmend infrage gestellt wird: Studien zeigen, dass der Transport
    von Fleischprodukten (in gefrorener Form) kostengünstiger und effizienter sein kann, wenn die nötige Infrastruktur vorhanden ist[22][23]. Die lebende Fracht beansprucht nämlich viel mehr Raum und Ressourcen — auf einem Frachtschiff lässt sich 60-mal mehr Fleisch in Form von tiefgekühlten Schlachtkörpern transportieren als in Form von lebenden Tieren[24][25]. Dennoch bleibt die Nachfrage nach lebenden Nutztieren bestehen, solange Kühlketten-Investitionen und logistische Lösungen in den Zielländern fehlen oder Verbraucher frisches Fleisch von heimisch geschlachteten Tieren bevorzugen.

Zusammengefasst sind Lebendtiertransporte vor allem deshalb noch verbreitet, weil sie — trotz aller offensichtlichen Nachteile für das Tierwohl — Versorgungslücken schließen, die anders kaum zu überbrücken wären. In wohlhabenden Importregionen wie den Golfstaaten hat zwar inzwischen nahezu jeder Haushalt einen Kühlschrank (Kühlgeräte sind dort zu über 99 % verbreitet), und gekühltes Halal-Fleisch wird vermehrt direkt importiert. Doch in ärmeren Ländern und entlegenen Regionen fehlen oft noch die technischen Voraussetzungen, um eine rein auf Fleischimporte gestützte Versorgung sicherzustellen. Dieser Umstand wird von manchen westlichen Tierschutzexperten mitunter übersehen — was in den Augen von Vertretern der Exportbranche zu realitätsfremden Forderungen führt. Sie argumentieren, dass Lebendtiertransporte in absehbarer Zeit nicht völlig ersetzbar seien, sofern man die Lebensmittelversorgung in den Importländern nicht gefährden möchte.

Fazit: Zwischen Versorgungssicherheit und Tierschutz

Der Fall der Spiridon II macht deutlich, in welch schwierigem Spannungsfeld sich internationale Lebendtiertransporte bewegen. Einerseits stehen berechtigte Tierschutzbedenken im Raum: Die Bilder von eingepferchten, kranken und sterbenden Rindern auf hoher See lösen weltweit Entsetzen aus und stärken die Forderung, solche Transporte zu begrenzen oder ganz zu verbieten[20]. Andererseits sind die wirtschaftlichen Interessen und die Bedürfnisse der Importländer nicht von der Hand zu weisen: Für manche Regionen sind lebende Tierlieferungen derzeit die einzige Möglichkeit, um die Bevölkerung mit frischem Fleisch zu versorgen. Jede Tragödie wie jene vor der türkischen Küste führt daher zu einer intensiven Debatte: Wie kann man das Leid der Tiere minimieren, ohne zugleich die Ernährungssicherheit in den empfangenden Ländern zu gefährden?

Kurzfristig zeigen die Ereignisse vor allem, dass eine strengere Kontrolle und bessere Planung solcher Transporte nötig sind. Wie konnte ein Schiff ohne vollständige Papiere überhaupt auslaufen? Warum wurden nicht frühzeitig Alternativhäfen oder Notfallpläne geprüft? Beobachter — auch aus der Exportwirtschaft — äußern Unverständnis darüber, dass offenbar vorschriftswidrig gehandelt wurde. Sie fordern, Importeure und Exporteure stärker in die Verantwortung zu nehmen, anstatt nur provisorische Nothilfe (wie ein paar Heuballen Futter) zu leisten. Letztlich dürfe ein Fiasko wie dieses nicht einfach ausgesessen werden. Die betroffenen Rinder leiden unter jedem verlorenen Tag; verantwortliche Stellen müssten mit Hochdruck an einer Lösung arbeiten und Lehren für die Zukunft ziehen.

Langfristig bleibt die Herausforderung, Alternativen zu entwickeln, die sowohl den Menschen in den Importländern als auch dem Wohlergehen der Tiere gerecht werden. Der Ausbau von Kühlinfrastruktur, lokale Zuchtprogramme, verstärkte regionale Fleischproduktion oder moderne Konservierungsmethoden könnten perspektivisch dazu beitragen, die Abhängigkeit von Lebendtransporten zu verringern. Bis dahin jedoch ist zu befürchten, dass ähnliche Tragödien weiterhin passieren — so lange lebende Tiere über Ozeane geschickt werden, ist das Risiko eines Desasters immer präsent. Der Fall Spiridon II führt dies eindrücklich vor Augen und sollte als Weckruf dienen, endlich ernsthaft nach Lösungen zu suchen, damit sich ein solches Leiden nicht wiederholt.

Quellen:

Die Informationen in diesem Artikel basieren auf aktuellen Berichten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (faz.net), der Nachrichtenagentur ORF, Stellungnahmen der Animal Welfare Foundation[26][3][4], sowie weiteren Presse- und Fachberichten[21][24].

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